Neue Impulse für die Gerberstraße

Gerberstraße

Die Kemptener Innenstadt hat in den vergangenen Jahren zweifellos an Attraktivität gewonnen. Eine rundum erneuerte Fußgängerzone, neu gestaltete Plätze, neue Läden, sanierte Gebäude, publikumsträchtige Veranstaltungen und originelle Brunnenanlagen sorgen für eine Bereicherung des städtischen Lebens. Dies bedeutet weit mehr als nur „Kundenfrequenz” für den Handel. Eine attraktive Innenstadt ist ein Wert an sich, da sich mit deren unverwechselbarem Erscheinungsbild die Einwohner der gesamten Stadt identifizieren können. Diese neu gewonnene Attraktivität lockt offensichtlich nicht nur Menschen auf Zeit in die Innenstadt, sondern auch das Wohnen in der Stadt gewinnt wieder an Popularität.

Nicht alle Teile der Innenstadt aber profitieren in gleicher Weise von dieser Entwicklung: Die Gerberstraße und ihre angrenzenden Seitengassen beispielsweise werden von den Besuchern der Innenstadt nicht in dem Maße angenommen, wie das wünschenswert wäre. Sie lädt in ihrem jetzigen Zustand noch zu wenig zum Bummeln und Verweilen ein. Dadurch aber entsteht ein Bruch im innerstädtischen Wegesystem, an einer obendrein besonders sensiblen Stelle, nämlich der kürzesten Wegeverbindung zwischen den früheren „Machtzentren” von Stiftsstadt und Reichsstadt.

Dies war auch der Grund, warum wir dieses Gebiet für das Modellprojekt „Leben findet Innenstadt”, ausgelobt von der Obersten Baubehörde im Bayerischen Innenministerium, vorgeschlagen haben. Unabhängig davon, wie die Auswahljury entscheidet (von 42 eingegangenen Bewerbungen werden bayernweit ca. 7-9 Modellgebiete ausgewählt), sollte das Thema „Gerberstraße” dennoch auf der Tagesordnung bleiben und gemeinsam mit allen Anwohnern, Hauseigentümern und Geschäftsleuten eine Entwicklungsstrategie für dieses Gebiet erarbeitet werden.

Die Haupteinkaufslage der Kemptener Innenstadt endet derzeit im Norden als „Sackgasse”, wenn auch mit zweifellos attraktiven und namhaften Einzelhandelsbetrieben. Die Konzentration überaus bedeutsamer historischer Bauwerke zwischen Residenzplatz und Kornhausplatz trägt ihren Teil dazu bei, dass zahlreiche Besucher den Weg in diesen Teil der Kemptener Innenstadt finden. Eine aktuelle Untersuchung des Einzelhandelsverbands hat erst kürzlich die hohen Passantenfrequenzen im Bereich zwischen Kaufhof Galeria und Mode Reischmann bestätigt. Mit Staunen nahm man zur Kenntnis, dass hier im Durchschnitt sogar mehr Passanten unterwegs sind als in der Bahnhofstraße, unmittelbar vor dem Forum Allgäu.

Dennoch darf dies kein Grund sein, den gegenwärtigen Zustand bereits als optimal zu betrachten. Ziel muss es vielmehr sein, auf eine ständige Verbesserung in der Innenstadt hinzuwirken. In besonderem Maße gilt dies für Bereiche wie die Gerberstraße, deren beträchtliches Potential bisher nicht annähernd ausgeschöpft wird.

Die Straßenzüge im Bereich der Gerberstraße weisen die für die historische Reichsstadt charakteristischen, überwiegend traufständigen Häuserzeilen auf. Verschiedene denkmalgeschützte Gebäude belegen die Zunfttradition der Gerber (ehemalige Rotgerberei, Gerberstadel), die früher hier ansässig waren. Der Zustand der Bausubstanz der meisten Gebäude entspricht jedoch nicht dem Potential, das Struktur und historische Substanz ermöglichen würden. Die andernorts in der Stadt bereits erreichte Atmosphäre eines historisch gewachsenen und doch auch entsprechend modernen Bedürfnissen sanierten Standortes wurde bisher bei baulichen Veränderungen oder Unterhaltsmaßnahmen an den Einzelgebäuden nicht als mögliche Chance gesehen. Innenhöfe und teils nach Süden ausgerichtete Rückseiten der Gebäude werden weder als Binnenverbindung noch als gestaltete Freiflächen genutzt. Sie sind zum Teil aber auch verbaut oder dienen als Kundenparkplatz und reine Nebenraumzonen.
Die Scharnierfunktion, die der Gerberstraße zukommt, lässt bei einer entsprechenden

Aufwertung erhebliche positive Auswirkungen auf die gesamte Innenstadt erwarten:

  • Lückenschluss im Wegesystem
  • Vorbildfunktion für weitere, ähnlich strukturierte Innenstadtrandgebiete
  • Langfristige Sicherung des innerstädtischen Gesamtgefüges durch Weiterentwicklung des „Knochen-Konzepts“ (mit starken Magnet-Betrieben an den Enden) hin zu einer netzartig erweiterten, filigraneren, vor allem aber stabileren Struktur

Insbesondere der letzte Punkt ist von zentraler Bedeutung, will man eine spürbare Aufwertung der Gerberstraße erreichen. Dabei kann es sich jedoch nicht um Einzelmaßnahmen handeln, sondern ein Gesamtkonzept ist gefordert, in das alle Aktivitäten sowohl von privater wie auch von öffentlicher Seite eingebunden sind, beispielsweise:

  • Herstellen einer wesentlich größeren Durchlässigkeit im Gebäudebestand mittels Passagen, neuen Eingängen, Verbindungen zwischen bisher getrennten Ladengeschäften etc.
  • Aktivierung der Nutzflächen in den Obergeschossen als attraktive innerstädtische Wohnräume oder gewerbliche Einheiten
  • Fassadensanierungen bei einzelnen Objekten
  • Neukonzeption nicht mehr zeitgemäßer Ladengeschäfte
  • Steigerung der Aufenthaltsqualität im öffentlichen Raum

Seitens der Stadt werden die Bestrebungen in den nächsten Monaten darauf ausgerichtet sein, mit allen Anwohnern, Hauseigentümern und Geschäftsleuten im Bereich der Gerberstraße ein abgestimmtes Entwicklungskonzept zu erarbeiten, das neue Impulse und damit eine neue Attraktivität in einen Teil der Innenstadt bringt, der sich viel zu lange schon unter Wert verkauft.

Von Dr. Richard Schießl

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